Das Erwachen und der Wanderer

Geschrieben von Telias am 17.10.2022 um 22:45
Ein Auszug aus den Schriften von Deckard Cain, Letztem der Horadrim


Bedauerlicherweise war ich der einzige Mann in Tristram, der von dem unter dem uralten Kloster begrabenen Seelenstein wusste. Als letzter Nachfahr der Horadrim kannte ich allein die Wahrheit über das, was in dem scharlachroten Stein gefangen war. Wenn ich ihnen alles gesagt hätte, wäre unser ruhiges kleines Dorf vielleicht verschont geblieben. Vielleicht wäre die schreckliche Kette der Ereignisse niemals ausgelöst worden.

Ich vermute jedoch, es war der Erzbischof Lazarus, der als Erster Opfer der verzehrenden Macht des Seelensteins wurde. Er war als Botschafter der Kirche Zakarums von Kurast geschickt worden. Da er in Licht gehüllt war, konnte sich niemand den Verrat vorstellen, zu dem er fähig war. Offenbar hatte er den scharlachroten Stein im Labyrinth unter dem Kloster entdeckt ... und zerschmettert.

Einerlei, ob er nun von Wahnsinn oder einem heimtückischen Plan getrieben wurde, jedenfalls befreite Lazarus einen unaussprechlichen Schrecken. Diablo, der Herr des Schreckens, den meine Ahnen in dem Seelenstein eingesperrt hatten, wurde wieder befreit und kam über die Welt. Irgendwie hat Diablo seine höllischen Kräfte eingesetzt, um das feuchte Labyrinth in ein Tor zu verwandeln, das direkt in den klaffenden Höllenschlund selbst hinabführt. Seine mörderischen Helfershelfer haben sich darin eingenistet und auf jeden gewartet, der töricht genug war, in seine dunklen Tiefen hinabzusteigen. König Leon, unser edler Herrscher, geriet in Diablos Bann und stürzte in die Abgründe von Irrsinn und Verzweiflung. Während unser wahnsinnig gewordener König das Land mit eiserner Faust regierte, wurde Prinz Albrecht, sein einziger Sohn, von Lazarus entführt und in das verfallene Kloster verschleppt. Er sah mit an, wie die dunklen Kreaturen unter der Erde in unser Dorf schlichen und allen Entsetzen einflößten, die geblieben waren. Es waren finstere Zeiten für uns alle ...

Am Tage arbeiteten wir wie immer auf unseren Äckern und versuchten vergebens, die wachsende Aura des Grauens zu ignorieren, die von dem verfallenen Kloster ausging. Nachts verschanzten wir uns mit unseren Familien und beteten, dass das Licht der Morgendämmerung sich zeigen möge. Es schien uns eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich die Erlösung kam.

Ein unablässiger Strom von Helden und Abenteurern aus allen Winkeln der bekannten Welt begann, den Gerüchten nachzugehen, die vom Erstarken des Bösen in Tristram erzählten. Manche suchten Glück und Ruhm, andere wollten ihre Kräfte mit den geheimnisvollen Bestien messen, die unter der Erde schliefen. Selbst Zauberer des alten Magier-Clans der Vizjerei kamen, um das Böse zu studieren, das in unserem Land erwacht war. Obwohl die vielen Glücksritter unser Dorf fast erdrückten, ruhte unsere ganze Hoffnung auf Erlösung doch auf ihren Schultern.

Ein Krieger war unter ihnen, ein ruhiger, besonnener Mann, der sich von allen anderen unterschied. Keiner von uns erfuhr je seinen Namen oder wechselte mehr als ein paar Worte mit ihm. Und doch umgab ihn eine Aura von Ruhe und Konzentration, die selbst die hartgesottensten der anderen Helden beunruhigte. Diesem geheimnisvollen Krieger gelang es, in die tiefsten Tiefen des Labyrinths vorzustoßen. Er war es auch, der den Herrn des Schreckens letztlich im Kampf besiegte.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich noch immer Diablos gequälten Todesschrei in meinen Ohren hallen hören. Er schallte aus den Tiefen der Erde herauf, sodass die Fenster des verlassenen Klosters barsten. Es mag meiner Einbildung zuzuschreiben sein, aber ich erinnere mich deutlich auch an die Schreie eines kleinen Kindes inmitten des wütenden Gebrülls. Das Echo dieser Schreie sucht mich noch immer in den wenigen Stunden des Schlafes heim, zu denen ich fähig bin.

Ich erinnere mich deutlich an den Anblick des Kriegers, als er über die Schwelle des Klosters ins Licht der Sonne trat. Er sah aus, als hätte er die Hölle selbst durchquert, und wer weiß? ... Vielleicht hatte er das. Er war mit seinem eigenen Blut und dem seiner Feinde besudelt. Doch dann fiel mein Blick auf die seltsame Wunde an seiner Stirn. Es sah aus, als hätte er sich irgendwie selbst eine Verletzung über den Augen zugefügt, doch die Wunde schien bereits geheilt zu sein. Ich hatte nie die Möglichkeit, ihn danach zu fragen.

Belassen wir es dabei, dass wir glaubten, unser Dorf sei gerettet, und wir überschütteten unseren namenlosen Helden mit allen möglichen Belohnungen. Doch trotz Lob und Ehrungen, die ihm zuteil wurden, versank er tiefer und tiefer in düsterer dumpfer Niedergeschlagenheit. Ich konnte die unaussprechlichen Schrecken, die er unter der dunklen Erde gesehen hatte, nur erahnen, nur Mutmaßungen anstellen, wie sie sich auf sein Herz und seinen Verstand ausgewirkt haben konnten.

Er blieb eine ganze Zeit bei uns. Da er keine Familie und kein Ziel hatte, schien es auf der Hand zu liegen, ihn in Tristram willkommen zu heißen. Zwar begegnete er allen, die zu ihm kamen, mit großer Herzlichkeit, aber für gewöhnlich sonderte er sich ab und verließ selten das Haus, das wir ihm überlassen hatten. Odgen schlug vor, ein Fest zu veranstalten, damit belebende Getränke und die Gesellschaft von Freunden ihn aus seiner düsteren Stimmung reißen sollten. Wir irrten uns. Irgendwann während des Festes stahl er sich davon und ließ uns verwirrt zurück. Später am Abend besuchte ich ihn zu Hause. Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, was ich dort sah.

Der namenlose Mann saß allein unter seiner Eingangstür und murmelte in verschiedenen Sprachen vor sich hin, von denen viele seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen wurden. Er hatte einen dunklen Reisemantel übergeworfen, dessen Kapuze sein Gesicht verbarg. Als er sich zu mir umdrehte, beleuchtete der Feuerschein seine gequälte Miene und zeigte das verzerrte Antlitz eines Mannes, der nicht mehr er selbst war. Scharlachrotes Feuer glomm in seinen Augen, und ein unheimliches rotes Licht pulsierte unter der Kapuze. Die Wunde an seiner Stirn war aufgeplatzt ... und ich glaubte zu sehen ... nein, wahrscheinlich hatte nur das Licht der regen Phantasie eines alten Mannes einen Streich gespielt.

Ich fragte ihn, ob es ihm gut ginge, doch er murmelte nur weiter. Das Schauspiel beunruhigte mich zutiefst, und gerade hatte ich beschlossen, ihn allein zu lassen und Hilfe zu holen, als er plötzlich wie aus einem Schlaf zu erwachen schien und mit einer eiskalten Stimme sprach, die mein Herz mit einem lähmenden Grauen erfüllte. „Die Zeit ist gekommen, diesen Ort zu verlassen. Meine Brüder warten im Osten auf mich. Ihre Ketten binden sie nicht mehr.“ Damals hatte ich noch keine Ahnung, wovon er sprach. Wir hatten alle geglaubt, er sei ohne Familie. Aber da ich sah, dass er wieder zu Verstand gekommen war, beschloss ich, mich zurückzuziehen und ihn ruhen zu lassen. Tatsächlich graute mir in diesem Augenblick vor ihm, und ich wollte nur seinem sengenden Blick entfliehen. Ich sollte ihn niemals wiedersehen.

Unser namenloser Held verließ Tristram schon am nächsten Tag. Heimlich brach er zum Pass im Osten auf und nahm nur einen Rucksack mit Proviant und sein starkes Schwert mit. Ich kann nur vermuten, wonach er suchte. Kurz nach seiner Abreise wurden unsere schlimmsten Alpträume wahr. Die dämonischen Diener der Hölle kehrten nach Tristram zurück.

Als einziger noch Überlebender bringe ich nun diese Zeilen zu Papier. Ich konnte den üblen Bestien viele Nächte entkommen, weiß aber, dass meine Zeit knapp wird. Warum sie zurückgekommen sind und so viele Unschuldige niedergemetzelt haben, werde ich wohl nie erfahren. Ich weiß nur eines mit Sicherheit: dass ihr Erscheinen irgendwie mit der Abreise des Namenlosen in Zusammenhang steht ... Ich habe dies alles in der Hoffnung aufgeschrieben, dass jemand diese Zeilen finden und versuchen wird herauszufinden, was sich hier tatsächlich zugetragen hat. Ich gehe davon aus, dass mein Leben bald zu Ende sein wird, aber vielleicht können meine Aufzeichnungen verhindern, dass andere Dörfer, andere Länder von derselben Tragödie befallen werden. Ich werde hier bleiben, bis Hilfe eintrifft oder die Kreaturen mich zuletzt doch vernichten. Der Himmel stehe mir bei. Selbst nach allem, was geschehen ist, bringe ich es nicht fertig, diesen Ort des Grauens zu verlassen.

Sucht den namenlosen Wanderer. Findet heraus, wonach er sucht. Ich fürchte, Tristram ist nur das erste von vielen Dörfern, die von dem Bösen heimgesucht werden, das er bekämpfen wollte.

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